Impuls zur EKD-Veranstaltung „Welche bildungspolitischen Konsequenzen hat die digitale Revolution?“

07.11.2018

Wer digitale Medien aus der Schule heraushalten will, stellt sich gegen das Leben im 21. Jahrhundert und würde damit digitale Analphabeten hervorbringen. Die bildungspolitischen Auswirkungen der Digitalisierung habe ich in den Mittelpunkt meiner Impulsrede bei der EKD-Veranstaltung zur "Digitalen Revolution" gestellt. Digitale Mündigkeit ist in Zeiten wachsenden Populismus mehr denn je gefragt.

Lesen Sie hier meine Rede

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mein Thema heute ist kein Kleines:
„Welche bildungspolitischen Konsequenzen hat die digitale Revolution?“

Die digitale Revolution wird oft als disruptiv beschrieben, so auch in Papieren evangelischer Akteure. Digitalisierung wird mit „Geschwindigkeit“ und „Verwerfungen“ assoziiert. Sie mache unsere Zukunft unsicher, unbeständig, komplex und uneindeutig. Und in der Tat, aus diesen vier Merkmalen lässt sich leicht ein bedrohliches Bild zeichnen.

Als Christ kann man aber auch positive Aspekte absehbarer Entwicklungen sehen und auf sie hinarbeiten:
• Veränderung schafft nicht nur Unsicherheit. Wo Veränderung der Normalzustand ist, haben junge Menschen gerade in einer alternden Gesellschaft viel Raum für Kreativität, Phantasie und Mut zur Neuerung;
• Wo die Vorhersagbarkeit sinkt, nehmen Routinen ab, die ja oft als langweilig empfunden werden. Stattdessen entsteht Raum für ein neues Herangehen, auch an scheinbar immer gleiche Vorgänge und Entwicklungen;
• Wo die Komplexität des eigenen Tuns bekannt ist, wo ein Bewusstsein dafür entsteht, dass alles mit allem zusammenhängt, wird Achtsamkeit sich selbst, dem Mitgeschöpf und der Umwelt gegenüber selbstverständlicher;
• Wo Fakten nicht mehr hinterfragt für sich allein stehen, sondern im Kontext eingeordnet und gewichtet werden müssen, wird der kritische Umgang mit ihnen und mit ihren Quellen zur Grundfertigkeit.

Mündigkeit und Verantwortlichkeit werden immer wichtiger.

Wir müssen die notwendigen kreativen, sozialen, lebens- und umsetzungspraktischen Kompetenzen für das Zeitalter der Vernetzung und Kollaboration entwickeln. Junge Menschen tun das auch in den Schulen. Natürlich ist die Familie der erste Ort, an dem dies geschieht, aber er ist nicht der einzige. Und dort, wo Familien aus unterschiedlichen Gründen damit überfordert sind, sind Schulen umso wichtiger.

Ende Oktober schrieb der Spiegel: „Das Internet ist kaputt“. Damit zitierte der Autor einen der Mitbegründer von Twitter und zog Parallelen zwischen den Internetpionieren und den ersten Sozialisten. Statt Freiheit kam Stalinismus. In der Tat benutzt die chinesische Staatsführung die Kontroll-und Überwachungsfunktionen des Internets schon längst, um bis ins Privateste hinein zu lenken und zu bestrafen. Dem gegenüber steht derzeit oft nur der „Winner takes all“-Neoliberalismus des Silicon Valley.

Wir wollen weder das eine noch das andere. Die politische und gesellschaftliche Verantwortung liegt darin, den Menschen in diesem Land die Mündigkeit zu ermöglichen und zu erhalten, „das Internet“ sowohl in freiheitlicher Weise zu nutzen als auch es unseren Werten entsprechend mitzugestalten.

Und das fängt bei der kritischen digitalen Bildung in der Schule an.
Alle Debatten, ob Lernen und Schule zukünftig mit oder ohne Digitales stattfinden soll, gehen am Kern vorbei. Wer digitale Technik, digitale Kommunikation und digitale Wissensaneignung aus der Schule heraushalten will, stellt sich gegen das Leben im 21. Jahrhundert. Er würde digitale Analphabeten ins Leben entlassen, die der Entwicklung der Welt hilflos ausgeliefert wären.
Gute Bildungspolitik ist weder kulturpessimistisch noch technikeuphorisch. Sie befähigt zur wertegebundenen Gestaltung der Wirklichkeit, zu Aktivität und Veränderung.

Seit ich mich mit digitaler Bildung befasse, kenne ich den heftigen und teilweise emotionalen Gegenwind.

Skeptiker unterstellen, dass digitale Medien das Lernen zum Spiel machen und die notwendige Anstrengung verhindere. Das ist meiner Erfahrung nach falsch. Lernen bleibt auch mit digitalen Medien eine Herausforderung. Es kann aber für jeden einzelnen Menschen passender, fordernder und fördernder gestaltet werden. Und so kann es Türen öffnen zu eigenen Fähigkeiten und Potenzialen.

Manche Kritiker entwerfen düstere Szenarien, dass digitale Medien Kinder und Jugendliche süchtig machen und von wichtigen Lebenserfahrungen abhalten. Auch das ist meiner Erfahrung und Überzeugung nach zu kurz gesprungen. Wo sonst sollen Kinder und vor allem Jugendliche erkennen, was tatsächlich fest verankert „ins eigene Gehirn gehört“ und was tatsächlich „schnell mal nachgeschaut werden kann“? Und das ist keine überflüssige Frage. Diese Unterscheidung wird angesichts des exponentiell wachsenden menschlichen Wissens eine der zentralen Zukunftskompetenzen sein!
Und natürlich ist das „digitale Klassenzimmer“ keins ohne Lehrerin oder Lehrer. Beziehung bleibt fundamental für gute Bildung. Und sie bleibt in den Schulen des 21. Jahrhunderts bestehen, analog und persönlich. Das „digitale Klassenzimmer“ kann sich aber auch öffnen. per Video-Stream kann ein langfristig erkranktes Kind stundenweise teilnehmen. Oder es kann zu einem bestimmten Aspekt die Tierklinik oder die Schadstoffmessstelle direkt in den Klassenraum holen.

Digitale Medien sind Hilfsmittel zum Lehren und Lernen. Wer Digitales in der Schule oder im Ausbildungsprozess oder an der Hochschule anwendet, muss immer begründen können, was der pädagogische Wert ist. Das Digitale ist kein „Allheilmittel“ und nicht etwa das einzige Merkmal guter Bildung.

Niemand sollte mit Bildern um sich werfen, in denen der Kreidestaub nur so staubt und alle und alles alt und nach „Kreidezeit“ aussehen lässt. Auch mit der Kreidetafel war und ist guter Unterricht möglich. Und auch das Erklären digitaler Prozesse funktioniert mit Bleistift und Papier.

Aber in der digitalen Welt brauchen unsere Schulen einen Kulturwandel: Nicht mehr frontal, getaktet und gleichzeitig, sondern viel mehr gegenseitig und nach individuellem Bedarf. Dieser Kulturwandel kann nicht „von oben“ kommen. Die neue Kultur ist nicht in dem Moment im Raum, in dem das W-LAN funktioniert. Der Kulturwandel muss sich entwickeln können, er muss vor Ort entstehen. „Von oben“ braucht er den Raum, sich zu entfalten, und die Unterstützung, sich zielgerichtet und mit Erfolgskontrolle weiterzuentwickeln. Dazu legen wir mit dem DigitalPakt Schule die Grundlagen.

Im Mai dieses Jahres hat die Bundesregierung die Änderung des Art. 104c GG auf den Weg gebracht, damit der Bund die Investitionen in Bildungsinfrastruktur in Zukunft nicht nur in finanzschwachen, sondern in allen Kommunen durch Finanzhilfe unterstützen kann. Ich bin zuversichtlich, dass ab Anfang 2019 das Geld an die Schulen fließen wird. Bund und Länder schaffen gemeinsam in der Bildungspolitik die Voraussetzungen dafür, dass alle jungen Menschen die gleichen guten Auswahlmöglichkeiten für ihre Zukunft haben. Wenn das Lernen für die digitale Welt durchdacht und umfassend umgesetzt werden kann.

„Bildung“ und Kompetenzbildung betrifft aber nicht nur Schule, sondern wird immer alltäglicher, ein Berufsleben lang. Wir alle erleben in unseren Berufen seit der Jahrtausendwende ganz rasant, dass die Arbeitswelt immer stärker auch zur Lernwelt wird. „Ausgelernt“ gibt es nicht mehr.

Auch in der Arbeitswelt ist die Digitalisierung längst angekommen und bringt neue Herausforderungen:
Der Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer hat dazu eine These aufgestellt: „Die Digitalisierung und ihre Geschwindigkeit zwingt Unternehmen und Individuen zu permanenter Bildung und lebensbegleitendes Lernen, um die dynamische Veränderung gestalten zu können.“ Dem stimme ich sofort zu. Und diese These samt Konsequenzen ängstigt mich auch nicht. Denn Neugierde und der Wille zum Lernen sind dem Menschen ja als Grundausstattung mitgegeben, angeboren. Digitalisierung gibt dem lebensbegleitenden Lernen eine noch viel größere Bedeutung als schon bisher.

Auch als Bundesregierung sehen wir das und wollen es zukünftig auch strukturell stärker unterstützen. Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, dass mehr Menschen sich weiterbilden. Hier haben wir alle im Blick, aber am stärksten sicherlich diejenigen Menschen, die bisher am wenigsten an Weiterbildungsangeboten teilnehmen: die im fünften Lebensjahrzehnt, die ohne Berufs- oder Hochschulabschluss, Frauen in der Familienphase und andere Teilzeitbeschäftigte.

Alle sollen sich zum einen den Anforderungen der digitalisierten Wirtschaft gewachsen fühlen können und zum anderen persönliche Weiterentwicklung wagen können.

Wir im BMBF wollen unseren Teil dazu beitragen: Vom DigitalPakt Schule über den Ausbau der Ganztagsbildung und -betreuung, die Neuauflagen von Hochschulpakt 2020 und Qualitätspakt Lehre bis zur nächsten Runde der Qualitätsoffensive Lehrerbildung und der Reform des BAföG, dem Einsatz digitaler Medien in der beruflichen Bildung und einem Programm wie „Kultur macht stark“.

Denn eines sollten wir bei der Diskussion um zukunftsnotwendige Kompetenzen nicht vergessen: Das staatliche Bildungssystem ist vor allem dazu da, jeder und jedem den Weg zu den eigenen Potenzialen zu ermöglichen.

Egal, ob man Bildung mit Blick auf die Ausbildung und Berufsbefähigung betrachtet oder eher mit Blick auf den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Standhaftigkeit der Demokratie - die „4Ks“ sind zentrale Zukunftskompetenzen: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken.
Und in diesem Kreis muss ich nicht weiter ausführen, dass die Wertebildung erst das kritische Denken ermöglicht.

Digitalisierung verändert die Welt schneller. Aber sie schafft auch die Möglichkeit, dass wir uns mit entwickeln. Als Staat und als Gesellschaft müssen wir die Bedingungen schaffen, dass niemand zurückbleibt.

Lassen Sie mich – auch angesichts des gerade zurückliegenden Reformationstages - mit einem Gedanken des großen christlichen Humanisten Philipp Melanchthon schließen. Gerade er stand ja in einer Phase, in der es kurz zuvor mit dem Buchdruck eine vergleichbar revolutionäre mediale und technische Revolution gegeben hat, für ein wertebasiertes Bildungs-Verständnis, das ich heute noch aktuell und inspirierend finde.
Mit Luther ging er davon aus, dass kluge und gebildete Bürger für die Zukunft von Stadt, Land und Staat wichtiger seien als alles andere. In diesem Sinne sagte er einmal sehr schön, treffend und geradezu prophetisch mahnend:
„Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Lebensform des Lehrens und Lernens das größte Wohlgefallen Gottes gilt und dass den Schulen im Blick darauf der Vorrang vor Kirchen und Fürstenhöfen gebührt, weil man in ihnen mit größerem Einsatz nach der Wahrheit strebt. (…)

Mit der gleichen Haltung, mit der die Gläubigen in die Kirche kommen, um ihre Andacht zu verrichten, solltet ihr in die Schulen eintreten. Denn auch hier geht man mit Heiligem um. (…) Es ist nicht weniger schuldhaft, Künste und Wissenschaften verkommen zu lassen, als die Gottesdienste in den Kirchen mit Schande zu bedecken. (…)

Die Erhaltung und Verbreitung lebensförderlicher Wissenschaft ist die heiligste und Gott wohlgefälligste Tätigkeit im Leben.“ 

Meine Damen und Herren, diese Ausführungen Melanchthons machen auch uns Heutigen deutlich, die wir derzeit die digitale Revolution erleben und auch bildungspolitisch zum Besten und Förderlichsten mitgestalten wollen, was letztlich bei all unseren Bemühungen immer auf dem Spiele stehen muss: nämlich der Mensch selbst!

Der Mensch bleibt im Mittelpunkt – auch der Digitalisierung!

Vielen Dank!