Demografischer Wandel: Eine der großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit

06.09.2019

Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Thomas Rachel anlässlich des Demografiekongresses am 05.09.2019 in Berlin.

Lesen Sie hier die Rede

Sehr geehrter Herr Fink, meine sehr verehrten Damen und Herren,

sehr gerne habe ich die Einladung angenommen, auf dem Demografiekongress zu sprechen. Denn der demografische Wandel zählt zusammen mit der Digitalisierung, der Mobilität, der Nachhaltigkeit und dem Klimaschutz und nicht zuletzt der Zukunft des Wohnens zu den großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit.

Die Politik ist aufgerufen, Antworten auf diese Fragen zu geben. Die Bundesregierung nimmt dies sehr ernst. Die Herausforderungen werden in manchen Teilen des Landes größer als in anderen sein. Das gilt besonders für die Regionen, die von Kohleausstieg und dem Strukturwandel betroffen sind. Die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetzentwurf für ein Strukturstärkungsgesetz in der letzten Woche die Weichen gestellt, um den Kohleregionen die strukturpolitische Unterstützung und Investitionshilfen zu ermöglichen, die dort gebraucht werden. Das soll Arbeitsplätze sichern und neue Arbeit schaffen.

Die Forschung zur Zukunft der Arbeit ist für dieses Ziel unerlässlich – in ganz Deutschland. Die Erkenntnisse und Innovationen aus der Forschung, die wir fördern, müssen in die Breite getragen werden. Sie sollen in möglichst vielen Städten, Regionen und Unternehmen zur Anwendung kommen.

Dafür schaffen wir regionale Kompetenzzentren der Arbeitsforschung. Diese Zentren sollen an den Stärken ihrer jeweiligen Region ansetzen, zum Beispiel an historisch gewachsenen Branchen und Kenntnissen, speziellen Technologien oder übergreifenden Netzwerken. Auf dieser Basis können Betriebe aus der Region dabei unterstützt werden, passgenaue Arbeitswelten zu entwickeln. In einer ersten Wettbewerbsrunde legen wir hierbei den Schwerpunkt auf Gestaltung neuer Arbeitsformen durch Künstliche Intelligenz.

Neben Arbeit und Produktion verändert die Digitalisierung auch den Dienstleitungssektor grundlegend; nicht nur die Industrie, sondern auch klassische Dienstleistungsbereiche, wie das Handwerk oder der Handel werden davon profitieren können. Gesundheits- und Pflegedienstleistungen bieten ein großes Potenzial für innovative Geschäftsmodelle. Das BMBF fördert in diesem Bereich vielversprechende Ideen, um das Leben der Menschen zu verbessern.

Ein Beispiel: Im Förderprojekt SmartHealthNet entwickeln Forscher eine digitale Plattform, die individuelle Behandlungsempfehlungen für Schlaganfallpatienten erstellen soll. Der Bedarf dafür ist groß. Rund ein Viertel der Betroffenen benötigen nach der akuten Schlaganfallbehandlung im Krankenhaus eine intensive Weiterversorgung. SmartHealthNet will zukünftig genau an diesem Punkt unterstützen. Erstmalig werden alle Beteiligten an einen Tisch geholt: Virtuell auf der digitalen Plattform. Dort werden alle individuellen Daten, beispielsweise Arztberichte, Therapieverläufe von Physiotherapeuten sowie Bedürfnisse des Betroffenen und der Angehörigen zusammengeführt. Mithilfe dieser Informationen können individuelle Empfehlungen für jeden Patienten erstellt werden. Die hochsensiblen Daten sind durch ein Datenschutzkonzept gesichert.

Die Digitalisierung ermöglicht uns also neue Anwendungen, die so bislang nicht möglich waren. Darüber hinaus gewinnt die Erforschung Künstlicher Intelligenz immer größere Bedeutung. Das Thema ist nicht neu, auch wenn es erst seit einiger Zeit so prominent in den Medien erscheint und damit einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerückt ist.

Künstliche Intelligenz als Teildisziplin der Informatik verbindet Erkenntnisse etwa aus der Mathematik, der Linguistik, den Neurowissenschaften und der Robotik. Aus dieser Verbindung können viele wertvolle Innovationen zum Wohle der Menschen erwachsen. Dabei kommt es auf das Zusammenspiel zwischen den Wissenschaftsbereichen und die Kooperationen der verschiedenen Akteure an.
Deutschland hat dabei eine gute Ausgangssituation: Wir fördern Forschung zur Künstlichen Intelligenz seit vielen Jahren, das DFKI – das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz – wurde bereits 1988 gegründet! Ich bin sicher, dass Herr Dr. Reithinger uns die Arbeit des DFKI in seinem Vortrag beeindruckend vor Augen führen wird.

In der KI-Grundlagenforschung gehören wir zur internationalen Spitze. Nach einer Auswertung des Wissenschaftsverlags Elsevier steht Deutschland im internationalen Vergleich der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen auf Platz 5, hinter China, USA, Japan und Großbritannien. In Europa werden mehr wissenschaftliche Arbeiten zu KI veröffentlicht als in China und den USA.

KI ist auch Treiber für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Hier müssen wir noch besser im Transfer werden, also die Erkenntnisse der Grundlagenforschung schneller marktfähig machen und in neue Geschäftsmodelle umsetzen.

Deshalb hat die Bundesregierung im letzten Jahr ihre KI-Strategie für Deutschland beschlossen. Damit wollen wir die Forschungsaktivitäten in Deutschland weiter bündeln, Innovationen zu Künstlicher Intelligenz so schnell wie möglich in die Anwendung, zu den Menschen und den Unternehmen bringen. Das sichert die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in Wissenschaft und Wirtschaft.

Profitieren soll davon auch der Bereich Medizin, Gesundheit und Pflege. Arbeitsmittel können verbessert werden, um pflegende Menschen zu unterstützen. Mit Hilfe von KI und Robotik können ältere Menschen in ihrem häuslichen Umfeld unterstützt werden, sodass sie so lange wie möglich zu Hause leben können.

Innovationen der Mensch-Technik-Interaktion sind dabei der Grundstein für eine bessere Pflege. BMBF-geförderte Forschung kann helfen, eine qualitätsorientierte Pflege zu unterstützen. Der demografische Wandel lässt die Zahl der Pflegebedürftigen weiter ansteigen: Während Ende 2017 rund 3,4 Millionen Menschen pflegebedürftig waren, wird diese Zahl Prognosen zufolge auf bis zu 4,5 Millionen im Jahr 2050 steigen. Damit kommen neue Herausforderungen auf die Pflege zu. Dies betrifft gleichermaßen Akutkrankenhäuser und Reha-Einrichtungen, die stationäre und ambulante Altenpflege und auch die Pflege im eigenen Zuhause. Pflegetechnologien haben das Potenzial, den Alltag von Menschen, die in Pflegeheimen, Krankenhäusern und in der häuslichen Pflege tätig sind, erheblich zu erleichtern. Zukunftsrelevant sind insbesondere feinfühlige und lernfähige Robotersysteme. Mit KI und maschinellem Lernen können diese smarten Assistenten Pflegebedürftigen in Zukunft viele belastende Arbeiten im Haushalt abnehmen. So ermöglichen sie ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Das ist etwas, was sich jeder von uns selbst für sein eigenes Leben nur wünschen kann.

Im Projekt „ROBINA“ fördert das BMBF beispielsweise die Entwicklung eines ganz einfach zu bedienenden Roboterarms, der von Pflegebedürftigen, auch ALS-Patientinnen und -Patienten, selbst gesteuert werden kann. Das Unternehmen Franka Emika ist an dieser Entwicklung beteiligt. Gegründet wurde es von Prof. Dr. Sami Haddadin, der heute hier vertreten ist. Er erhielt den Deutschen Zukunftspreis und den Leibniz-Preis, nicht nur für die exzellente Forschung in seinem Bereich, sondern auch dafür, dass er sich für den Dialog mit der Gesellschaft und unterschiedlichen Disziplinen öffnet.

Das ist wichtig: Denn in kaum einer anderen Branche müssen technische und soziale Innovationen so zwingend Hand in Hand gehen wie in der Pflege. Nur wenn Pflegetechnologien im alltäglichen Umgang als sicher, zuverlässig und vertrauenswürdig eingestuft werden, kann auch die Akzeptanz für deren Einsatz in der Pflege erreicht werden. Deshalb gestaltet das BMBF die Forschung in diesem Bereich partizipativ und bürgernah.

Die Entlastung von Pflegekräften und pflegenden Angehörigen durch Einsatz von Technik kann nur dann gelingen, wenn dabei die Anforderungen des Pflegealltags berücksichtigt werden. Das BMBF hat deshalb 2017 den Cluster „Zukunft der Pflege“ gestartet. Forschung, Wirtschaft und Pflegepraxis arbeiten gemeinsam mit Anwenderinnen und Anwendern an neuen Produkten, die den Pflegealltag in Deutschland erleichtern und verbessern sollen. In vier Pflegepraxiszentren und dem Pflegeinnovationszentrum wird hier in Berlin, Freiburg, Hannover, Nürnberg und Oldenburg der Einsatz neuer Technologien mit Betroffenen und den Pflegenden in den Pflegediensten, den Pflegeeinrichtungen und Kliniken erprobt und eingeführt. Damit können die Erkenntnisse aus der Forschung möglichst breit in die Anwendung getragen werden.

Für mich kann es bei all diesen technologischen Innovationen keinesfalls darum gehen, den zwischenmenschlichen Kontakt durch Technik, durch Roboter zu ersetzen. Es geht nicht um das technisch mögliche, sondern um die Unterstützung des Menschen durch die Technik, die wir uns wünschen. Die Bundesregierung setzt im gesamten Prozess der Entwicklung und Anwendung von KI grundsätzlich auf einen „ethics by design“-Ansatz als integralen Bestandteil. Dazu gehört auch, dass Entwickler und Konstrukteure sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst sind. Ethische Grundsätze müssen also schon während der Entwicklung eines Systems berücksichtigt werden. Unsere Frage muss sein: Was nutzt der Gesellschaft; was nutzt es den Einzelnen im Alltag?

Es sind die Städte, Landkreise und Gemeinden – die kommunale Ebene –, in denen dieses gesellschaftliche Zusammenleben und der Alltag der Menschen stattfindet. Daher kommt den kommunalen Akteuren in den Verwaltungen, kommunalen Unternehmen und sonstigen Organisationen und Einrichtungen eine besondere Rolle zu, wenn es darum geht, das Zusammenleben sicher, umweltfreundlich und lebenswert –mit einem Wort: nachhaltig – zu gestalten. Hier ergeben sich neue Möglichkeiten: sei es bei der Gestaltung eines attraktiven Mobilitätsangebots, bei der benutzerfreundlichen Bereitstellung von kommunalen Serviceleistungen oder auch bei der Instandhaltung von Versorgungsinfrastrukturen – wenn Ihnen beispielsweise ein lernender Algorithmus vorschlägt, welchen Teil des Abwassersystems Sie als nächstes warten sollten, weil dort am ehesten mit einem Schaden gerechnet werden muss.

So vielversprechend diese Möglichkeiten sind, so groß sind doch für viele Kommunen die Hürden bei der Einführung solcher innovativen Ansätze. Die Technologien stehen zur Verfügung, Ideen sind da, aber die Umsetzung vor Ort stellt Städte, Gemeinden und Landkreise oftmals vor große Herausforderungen.

Der Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis und die Orientierung am tatsächlichen Bedarf der Kommunen sowie der Stadtgesellschaft ist daher zentraler Anspruch der ressortübergreifenden Innovationsplattform Zukunftsstadt (kurz: IPZ). Die Arbeit der IPZ ist darauf ausgerichtet, dass Forschung immer anwendungsbezogen durchgeführt werden muss und nicht als „technokratische Lösung“ am tatsächlichen Bedarf der Kommunen sowie deren Bürgerinnen und Bürger vorbeigeht.

Ein sehr gutes Beispiel ist hier die Stadt Ulm. Ulm ist eine von acht Kommunen, die als Sieger des Wettbewerbs Zukunftsstadt der IPZ in den kommenden drei Jahren als Reallabor vom BMBF gefördert werden.

Gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft, Wirtschaft, der Zivilgesellschaft, Bildungseinrichtungen und Medien werden in der nun anstehenden Umsetzungsphase in Ulm nachhaltige Ideen für die Stadtentwicklung im Alltag der Stadt und ihrer Bevölkerung verankert. Unter dem Motto „Nachhaltigkeit digital mitgestalten – Internet der Dinge für alle“ werden in der Zukunftsstadt datenbasierte Lösungen für die Bereiche Verwaltung, Mobilität, Bildung und Alter entwickelt und im Stadtraum getestet. Dazu wurde sowohl öffentlicher als auch privater Raum mit Sensoren ausgestattet. So wird beispielsweise eine Musterwohnung für das selbstbestimmte Leben im Alter zu Hause mit ausgewählten, sensor-gestützten Alltagshelfern ausgestattet. Außerdem wird in Ulm mit GPS- und Bewegungssensoren untersucht, wie man die Stadt fahrradfreundlicher machen kann. Und wo Lastenräder für die Logistik sinnvoll sind. Die Ideen dazu stammen von Ulmer Bürgerinnen und Bürgern.
Wichtig dabei ist: Die Datenhoheit bleibt in der Hand der demokratisch legitimierten kommunalen Selbstverwaltung. Das stärkt die Kommunen in ihren Handlungsmöglichkeiten und schafft Vertrauen und Transparenz bei den Bürgerinnen und Bürgern.

Vielen Dank.